Via Claudia Augusta, Tag 5: Frei

Meran - Bozen - Trient - Rovereto - Bardolino (177 km)

Ich wache, wie so oft, vom Gesang der Vögel auf. Irgendetwas auf dieser Tour verändert meinen Schlafrhythmus. Vielleicht ist es die Tatsache, dass ich den ganzen Tag draußen bin, dem Tageslicht und dem Wetter ausgesetzt. Ist das mein "Biorhythmus", wie er funktionieren sollte? Fragen dieser Art beschäftigen mich jetzt jedoch nicht, denn durch das kleine Dachfenster über mir fällt die Morgensonne auf mein Bett! Nach den vergangen trüben Tagen ist das ein richtiger Lichtblick, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich freue mich auf die Weiterfahrt im Sonnenschein.

Heute bin ich "frei" - ich habe keine weitere Unterkunft gebucht, sondern möchte erleben, wie weit ich aus eigener Kraft komme. Ob meine Energie sogar bis zum Gardasee, wo mein Mann und meine Kinder auf mich warten, reicht? Ich weiß es nicht - immerhin sind es gut 170 km bis dorthin. So viel bin ich noch nie am Stück geradelt. Ich beschließe, das Ganze einfach mal auf mich zukommen zu lassen.

Um 8 Uhr gibt es endlich (ein herrliches) Frühstück. Einer meiner Zimmergenossen aus dem Schlafsaal ist auch schon wach und wartet wie ich bereits ungeduldig, den Tag endlich beginnen zu können. Es ist Viktor, der ursprünglich aus der Ukraine kommt, jetzt aber in Hof lebt und großen Gefallen am Bergwandern gefunden hat, erfahre ich. Wir frühstücken zusammen und tauschen uns übers Wandern, das Draußen-Sein und die Begegnungen unterwegs aus. Es ist ein schöner Start in den Tag!

Kurz nach 9:30 Uhr bin ich startklar. Etwas wehmütig lasse ich das Castello Pienzenau hinter mir zurück. Nun beginnt der knifflige Teil: Ich muss aus Meran herausfinden, idealer Weise auf dem Radweg, noch besser auf der Via Claudia Augusta. Mein GPX-Track (ich habe mir vor der Fahrt alle Routen als GPX-Dateien auf mein Smartphone geladen, was den Vorteil hat, dass ich nicht auf eine Internetverbindung angewiesen bin, da die Karten offline sind) hat sehr klare Vorstellungen, wo ich hin soll. Die Beschilderung in Meran bietet nicht ganz so viele Optionen - entweder man hält sich Richtung Bozen (was ja Sinn machen würde, aber dann nicht mehr meiner Vorgabe folgt) oder Richtung Vinschgau. Ich navigiere etwas genervt herum und checke gefühlt alle 250 m meine Position. Zwei freundliche italienische Radfahrer empfehlen mir, den Weg Richtung Bozen einzuschlagen, aber ich will natürlich lieber dem Originalverlauf der Route folgen. Nach viel Hin und Her bin ich endlich back on track.

Trotzdem sind die nächsten Kilometer frustrierend. Zum ersten Mal auf der Tour gibt es keinen durchgehend beschilderten Radweg mehr. Der Weg führt mal rauf, mal runter durch Weingärten und Nebenstraßen. Ständig muss ich abgleichen, wo ich bin. Das kostet Zeit und nervt. Vom Berghang aus kann ich ins Tal sehen - dort muss irgendwo der Radweg nach Bozen sein. Ich bereue schon jetzt, dass ich mich nicht gleich dafür entschieden habe. In Lana verliert sich der Weg erneut. Ich bin frustriert - dieses ewige Suchen kostet Zeit und Nerven. Es ist schon über eine Stunde vergangen, ohne dass ich eine nennenswerte Strecke zurückgelegt hätte. Da sehe ich einen anderen Radfahrer, der ebenso orientierungslos wie ich wirkt. Wir kommen ins Gespräch und beschließen, den Weg gemeinsam zu suchen und ein Stück miteinander zu fahren.

Es ist Chiel (sprich: hiel) aus Belgien, und aus dem "Stück", das wir zusammen zurücklegen wollen, werden schließlich nahezu 170 km. Chiel ist einer von jenen Menschen, mit denen man sich eine Stunde angeregt unterhält, bevor man überhaupt auf die Idee kommt, sich selbst vorzustellen und nach dem Namen zu fragen. Er ist nur fünf Tage vor mir in Belgien (!!!) gestartet, legt am Tag zwischen 140 und 180 km, im Ausnahmefall auch schon mal 200 km, zurück und will bis nach Rom fahren. Das alles erfahre ich, als wir beschließen, unter Missachtung aller Karten und Routen den Radweg nach Bozen einzuschlagen, der uns über Stunden an der Etsch entlang bequem flussabwärts führt, erst nach Bozen, dann nach Trient. Die ganze Zeit unterhalten wir uns angeregt auf Englisch und müssen oft aufpassen, keinen Abzweig zu verpassen oder Schilder zu übersehen. Zum ersten Mal vergeht die Zeit wie im Flug, und die Kilometer auf meinem Tacho summieren sich rasend schnell.


In Trient legen wir eine Verschnaufpause ein. Es ist 14:30 Uhr, und ich habe Hunger! Gott sei Dank finden wir kurz nach der Abfahrt vom Radweg eine einfache, aber sehr leckere, Pizzeria. Dort gibt es für 7,50 EUR eine große Pizza mit Getränk. Direkt nebenan ist eine Eisdiele, also ist für den Nachtisch auch gleich gesorgt. Derart gestärkt beschließen wir, weiter zu fahren. Nach ein paar Kilometern bereue ich die Schlemmerei. Die Pizza liegt mir schwer im Magen, und ich beschließe, mich in Zukunft lieber an meine "wenig(er), aber regelmäßig"-Ernährungsstrategie zu halten.

Der Weg bis nach Affi, von wo aus wir an den Gardasee abbiegen wollen - es ist mittlerweile beschlossene Sache, dass Chiel mitkommt und bei uns im Garten sein Zelt aufschlagen wird - zieht sich flach und völlig ereignislos hin. Von Süden her weht uns ein warmer, aber kräftezehrender Gegenwind entgegen. Wir sprechen kaum noch und arbeiten uns schweigend Kilometer um Kilometer voran. In Rovereto fahren wir noch einmal kurz ab, um einen Supermarkt zu suchen. Ich kaufe mir Wassermelone und einen Liter Cola. Die trinke ich sonst NIE, aber in dem Moment ist der schnelle Zuckerlieferant die reinste Wohltat. Nach dem kurzen Stopp geht es weiter. Auf einer Brücke am Ende des Ortes überschätze ich meine Kräfte und meine Koordination (mal wieder) ein wenig - nach 130 km ist man einfach nicht mehr besonders "frisch" - und stürze ein zweites Mal auf dieser Tour. Bis auf ein paar Schürfwunden bleibt aber alles unversehrt, und wir fahren zügig weiter.

Nach Rovereto wechselt der Radweg in immer kürzeren Abständen die Straßenseite. Irgendwann sind wir so genervt, dass wir einfach auf der Straße bleiben. Es ist mittlerweile schon Abend, und es sind nur noch wenig Autos unterwegs. Die letzten Kilometer bis zum See ziehen sich wie Kaugummi. Auch die Beschilderung lässt zu wünschen übrig. Das Glück kommt uns zu Hilfe, und wir erwischen vor Affi den richtigen Abzweig nach Bardolino, was uns mehrere Kilometer spart. Dann geht es noch ein letztes Mal bergauf, und endlich erhaschen wir einen Blick auf den See - ein Gänsehautmoment! Eine rasante, verdiente Abfahrt führt uns nach Bardolino. Wir haben es geschafft! Es ist kurz vor 21 Uhr. Nun ist es nur noch eine kurze Strecke bis zum Haus, wo wir freudig empfangen werden. Chiel schlägt sein Zelt auf. Ich dusche. Mein Mann kocht für uns (DANKE dafür). Die Kinder wuseln um mich herum wie junge Hunde. Alles ist gut.

PS: Die erste "Amtshandlung" heute? Hängematte aufhängen. Die Knoten halten. Dann: Füße hoch und das dolce vita ausgiebig genießen!