Via Claudia Augusta, Tag 4: Abfahrt

Nauders - Reschenpass - Prad am Stilfserjoch - Schlanders - Meran (90 km)

Trotz der Anstrengungen des gestriges Tages wache ich, einmal mehr, vom Gezwitscher der Vögel auf. Es ist erst 5:30 Uhr - Sonnenaufgang. Der Himmel zeigt sich erneut wolkenverhangen. Frühstück gibt es erst ab 7:30 Uhr. Ich mache es mir im Bett gemütlich, sortiere die Fotos von gestern und verfasse meinen überfälligen Blogeintrag. Das Packen meiner "Siebensachen" (viel mehr sind es ja wirklich nicht) geht mittlerweile ganz schnell, jedes Teil hat im Rucksack seinen festen Platz. Punkt 7:30 Uhr sitze ich bei Frühstück. Kaffee!!! Nutella!!! Kohlenhydrate!!!

Die heutige Etappe führt, bis auf einen kurzen Anstieg hinauf zum Reschenpass, (fast) nur bergab. Ich freue mich darauf und beschließe, ganz ohne Hast zu starten. So sitze ich erst gegen 9:30 Uhr im Sattel. Kaum aus Nauders abgefahren, lerne ich den ersten Spielverderber des heutigen Tages kennen: Gegenwind! Trotz des nur leichten Anstiegs komme ich auf den ersten 10 Kilometern nur mühsam voran. Einen kurzen Lichtblick bietet der (ehemalige) Grenzübergang nach Italien: Ich habe den Reschenpass und damit den höchsten Punkt der Tour erreicht!

Mein Stolz und meine Freude halten nicht allzu lang an, denn schon bald darauf setzt ein leichter Nieselregen ein, der sich schnell in starken Regen verwandelt. Same procedure as every day. Ich schlüpfe in die Regenjacke (das wohl hässlichste Kleidungsstück, welches ich besitze, aber in seiner Zuverlässigkeit nicht zu überbieten) und ziehe den Regenschutz über den Rucksack. Derart gut gerüstet geht es weiter. Dass mir etwas Wasser von oben nichts ausmacht weiß ich ja schon.

Dachte ich. Denn der Regen mausert sich schnell zu Gegenspieler Nr. 2. Ich passiere eine lange gerade Strecke am Reschensee entlang, halte für den absolut obligatorischen Fotostopp in Graun (Kirchturm im Wasser) und fahre weiter zum Haidersee. Mittlerweile bin ich leidlich durchnässt. Nach dem Haidersee beginnt das, was der eigentlich schönste Teil der Tour werden sollte: Die lange Abfahrt, die sich (im Wesentlichen) bis nach Prad am Stilfserjoch hinzieht. Leider legt der Regen noch eine Spur zu, und der Wind, der mir beim Fahren entgegenschlägt, tut sein Übriges. Ich merke, dass mir kälter und kälter wird. Bis Glurns bleibe ich tapfer. Dann übernimmt mein Kopf das Kommando: Ich will auf keinen Fall riskieren, völlig auszukühlen!

In Glurns finde ich schnell ein einladendes Café und blockiere dort erstmal die Damentoilette, um mich provisorisch trockenzulegen. Danach geht es mir schon ein bisschen besser. Ein fantastischer Marillenkuchen (natürlich der Beste meines Lebens!!!) und ein Latte Macchiato tun ihr Übriges, um meine Lebensgeister wieder zu wecken. Ich versuche, den Regen auszusitzen, leider ohne Erfolg. Es bleibt trüb, auch wenn der heftigste Regenguss vorüber zu sein scheint. Es hilft ja nichts - ich muss weiter. Ich versuche mich mit dem Gedanken zu trösten, dass in Meran die schönste Unterkunft der ganzen Tour auf mich wartet. Etwas resigniert wechsle ich meine noch immer nassen Klamotten gegen trockene Sachen aus, und nun kommt zum ersten Mal auch die Regenhose zum Einsatz, welche die Jacke an Hässlichkeit fast noch überbietet. Gegen 13:45 Uhr setze ich meine Fahrt, jetzt "in voller Montur", fort. Noch nicht einmal die Hälfte der Strecke ist geschafft.

Auch nach Glurns führt der asphaltierte Weg weiter sanft bergab. Zu sagen, das "die Kilometer unter meinen Reifen dahinschmelzen" würde der Sache nicht gerecht werden - es ist immer noch nass und relativ frisch -, aber ich komme gut voran und mir ist nicht mehr kalt. Nur meine Bremsen machen mir Sorgen. Obwohl ich mein Rad vor der Tour noch einmal beim "Kundendienst" hatte, greifen sie fast gar nicht mehr. Die Bremse am Hinterrad hat ihren Geist wohl schon aufgegeben. Mit Bedacht nutze ich die Vorderbremse und achte darauf, dass ich nicht zu schnell werde, was etwas nervt, denn nach dem ganzen Auf und Ab der letzten Tage hätte ich mir eine entspannte, lässige Abfahrt durchaus verdient (finde ich).

Nach Prad führt der Weg Kilometer um Kilometer durch Obstfelder. Ich treffe auf eine Familie aus Bayerischzell, die zu fünft auf der Via Claudia Augusta unterwegs sind. Der Jüngste ist elf Jahre alt. (So, meine lieben Kinder, falls ihr das lest oder vorgelesen bekommt: Jetzt gibt es keine Ausreden mehr. Das nächste Reiseziel dürfte klar sein, oder?) Nach dem üblichen biker smalltalk (Woher? Wohin? Wetter?) trennen sich unsere Wege wieder. Weiter geht es durch den nicht enden wollenden Obstgarten, ab und an unterbrochen von kleinen Sensationen wie üppigen Rosensträuchern oder einer self service Apfelsaft-Tankstelle (mein persönliches Highlight dieser Etappe).


Nach Naturns erwischt mich der nächste Wolkenbruch, aber Meran ist nun schon zum Greifen nah und ich beschließe, die restlichen 14 km einfach durchzufahren. Das klappt auf dem abschüssigen Radweg, den ich kaum mit anderen Radlern teilen muss, super. Nach Algund geht es jedoch noch ein letztes Mal steil nach unten und ich merke, dass ich eher vom Rad springen könnte, als dass meine Bremsen greifen. Was nun? Guter Rat ist teuer. Bis Meran (oder wenigstens bis zum Ende der Abfahrt) schieben will ich nicht. Mangels WLAN habe ich aber auch keinen Zugriff auf irgendwelche YouTube-Tutorials. Ich schaue mir die Sache also mal an... na, da müsste doch... wenn man hier dreht... und da zieht... und dann wieder festzurrt...?!? Ich krame das Multitool aus dem Rucksack. Selbst ist die Frau. Und siehe da - nach ein paar Minuten greifen beide Bremsen wesentlich besser, auch wenn für die hintere Bremse wohl jede Hilfe zu spät kommt. Aber ich komme sicher unten an und bin zum ersten Mal so richtig stolz auf mich!

Sobald ich das Ortschild von Meran passiere, erfüllt mich unbändige Freude. So weit habe ich es nun schon geschafft! Nun folgt allerdings eine kurze Orientierungsfahrt durch die zunächst wenig einladend wirkende Stadt, denn natürlich habe ich (mal wieder) keine Karte, in der meine Unterkunft eingezeichnet ist. Und kein WLAN. Gott sei Dank gibt es aber nach wie vor freundliche Menschen, die man einfach so fragen kann, und so finde ich ohne viel Hin und Her meine wunderbare Unterkunft, das Castello Pienzenau. (Vorher geht es noch einmal kräftig bergauf, aber ohne Fleiß bekanntlich kein Preis.)

Ich habe mich im Schlafsaal eingemietet und werde dort von drei netten jungen Leuten aus Bayern begrüßt, die ebenfalls mit dem Rad unterwegs sind. Es folgt das übliche Ritual: Schlafkoje einrichten, duschen und die triefend nasse Wäsche in einer der Waschmaschinen des Hotels waschen. (LUXUS!!!) Während die Waschmaschine ihren dringend benötigten Dienst verrichtet, mache ich mich sauber und entspannt auf die Suche nach einer Pizzeria. Nach einem kurzen Fußmarsch werde ich fündig. Gott sei Dank kann man in Italien nicht verhungern. Satt und zufrieden bestaune ich noch ein paar schöne Ecken, treffe auf einen netten Konditor, mache ein paar Fotos und dann geht es - wohlverdient - endlich ab in die Koje.