Via Claudia Augusta, Tag 3: Grenzgänger

Nassereith - Imst - Landeck - Pfunds - Martina (CH) - Nauders (85 km)

 

Punkt 6 Uhr holen mich die Glockenschläge des nahen Kirchturms (3 mal 24) ins Hier und Jetzt. Ich strecke mich und ahne bereits: Dieser Tag wird eine Herausforderung werden. (In welchem Ausmaß weiß ich da aber glücklicherweise noch nicht.) Es ist kein Muskelkater, der sich in meinem Körper breit gemacht hat, eher eine umfassende Erschöpfung. Aber Jammern hilft jetzt auch nicht, denn auch heute heißt es wieder treten, treten, treten.


Der erste schöne Moment des Tages lässt aber nicht lang auf sich warten: Vor meiner Zimmertür steht ein Korb mit meinen frisch gewaschenen und getrockneten Sachen. Nach dem gestrigen Tag in frische Kleidung schlüpfen zu können ist ein herrliches Gefühl! Auch das Frühstück mit den unglaublich herzlichen und liebenswerten Wirtsleuten lässt keine Wünsche offen. Ich werde ausdrücklich dazu ermuntert, mir noch eine Brotzeit für unterwegs mitzunehmen und bekomme dazu sogar noch ein Stück selbstgebackenen Kuchen mit auf den Weg. So viel Gastfreundschaft habe ich selten erlebt.

Gegen 7:30 Uhr mache ich mich auf den Weg. Der Himmel ist (immer noch? schon wieder?) wolkenverhangen, aber es bleibt weitestgehend trocken. Zunächst führt mich ein Waldweg durch das Gurgltal nach Imst, wo schon fast Großstadtfeeling aufkommt. Gleich nach Imst folgt die Via Claudia Augusta dem Inntal-Radweg. Endlich - die Ära der Schotterwege hat ein Ende! Allerdings fahre ich entgegen der Strömung und es geht sanft, aber kontinuierlich bergauf. (Was hatte ich bei einer Alpenüberquerung eigentlich erwartet?!?)

Nach meiner obligatorischen Pause um 9:30 Uhr (Magnesium, Müsliriegel, Wasser) beschließe ich, dass ich dringend Motivation für die vor mir liegenden Kilometer brauche, und so greife ich zum ersten Mal auf der Tour auf meine Ohrstöpsel und meine Lieblings-Playlist zurück. Es wäre gelogen, zu behaupten, dass die Zeit dadurch wie im Flug vergeht, aber die Müdigkeit in meinen Knochen und das ewige bergauf wird erträglicher, indem ich (wahrscheinlich sehr zur Freude aller mir entgegenkommenden Radfahrer) meine Lieblingslieder laut mitsinge. (Bestimmt werden meine Duette mit Grönemeyer in die Geschichte der Via Claudia Augusta eingehen.)

Kurz vor Landeck zeigt sich auch endlich die Sonne und ich verstaue meine Regenausrüstung im Rucksack. Bei dem etwas verworrenen Weg durch die Stadt erwische ich den falschen Abzweig, treffe dort aber prompt auf zwei Männer mit einem Hochdruckreiniger. Auf meine Bitte hin reinigen sie mein Rad vom Dreck der letzten beiden Tage, und im Nu finde ich zurück zur Radroute. Da kann man mal wieder sehen, für was der eine oder andere Umweg im Leben gut ist.

Auch nach Landeck führt die Strecke in einem steten Auf und Ab weiter am Inn entlang. Ich genieße den Sonnenschein und die herrliche Landschaft. Um 12:00 Uhr lege ich eine zweite Pause ein und nutze die Gelegenheit dazu,  Sonnencreme aufzutragen, um die "Kolateralschäden" zu begrenzen. Dann geht es weiter Richtung Pfunds. Aber irgendwann kann ich einfach nicht mehr. (Da habe ich bereits knapp 70 km in den Beinen.) Ich finde eine schattige Bank und lege mich tatsächlich für ein kurzes Nickerchen hin. Danach geht es mir besser - die Energie muss jetzt einfach reichen. Ich versuche, "zwischen den Ohren" positiv zu bleiben und steige wieder aufs Rad.

Immer noch geht es am Inn entlang. Nach Pfunds passiere ich die Kajetansbrücke und den Via Claudia See. Leider wird es jetzt von oben wieder nass, und ich muss meine Regenkleidung "reaktivieren". Nun beginnt auch das mithin anstrengenste Stück der gesamten Tour - der "Aufstieg" nach Nauders! 

 

Zunächst bin ich aber erstmal sehr unsicher. Obwohl ich der Beschilderung gefolgt bin, vermute ich, auf der falschen Seite des Inns zu sein, und so irre ich im Regen ein wenig überfordert die Straße vor und zurück. Meine GPX-Route erweist sich zum ersten Mal auf der Tour als definitiv falsch. Endlich treffe ich auf andere Radfahrer, die mir versichern, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Ich müsse nur noch nach Martina hinunter, von dort führe dann der Weg in 11 Kehren nach Nauders. (Als ich am nächsten Morgen im offiziellen Radführer nachschaue, sehe ich, dass dies wirklich der "richtige" Weg ist.) NUR NOCH??? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wo ich die Kraft dazu noch hernehmen soll. Also: Kopf aus und Zähne zusammenbeißen.


Bis Martina führt die Straße bergab, aber ich weiß genau: Jeden Meter, den ich jetzt nach unten fahre, muss ich später wieder rauf. Und so kann ich die Abfahrt gar nicht so recht genießen. Die Schweizer Grenzer winken mich durch. Bestimmt mache ich mittlerweile einen bedauernswerten Eindruck. Ein paar Meter weiter bin ich schon wieder in der EU, und nun beginnt der "Aufstieg". Die Kehren sind beschildert. Ich trete und fluche. Bis Kehre 8 gebe ich die Tourette-Patientin, dann steige ich ab und schiebe. Gott sei Dank - jetzt, wo ich es im Sattel schier nicht mehr aushalte, ist auf meine Beine beim Laufen noch Verlass! Bei Kehre 5 hält ein Auto mit Offenbacher Kennzeichen neben mir an. Das freundliche Paar erkundigt sich, ob alle in Ordnung ist und stattet mich mit Nüssen und getrockneten Aprikosen aus. Ich bin überwältigt und gerührt. Beim Weiterschieben bedauere ich, dass ich die beiden nicht nach ihrer Adresse gefragt habe, um mich erkenntlich zu zeigen.

Ich passiere Kehre 2. Nur noch eine Kehre - dann geht es hinunter nach Nauders! Da sehe ich besagtes Auto ein zweites Mal auf mich zukommen, diesmal aus der Gegenrichtung. Es ist Peter (seinen Namen und seine Adresse kenne ich jetzt), dem mein... jämmerlicher???... Eindruck keine Ruhe gelassen hat und der mich jetzt TATSÄCHLICH aufsammelt und nach Nauders fährt!!! Es sind zwar "nur" noch knapp zwei Kilometer, aber für mich ist das ein echtes Wunder. Genau in dem Moment, wo ich an meiner Leistungsgrenze entlangschramme, wird mir Hilfe zuteil. Es ist, trotz der bodenlosen Erschöpfung, ein großartiges Gefühl!

Dank Peters Hilfe erreiche ich innerhalb von Minuten meine Unterkunft. Ich checke ein, wasche meine Sachen aus, dusche und falle ins Bett. Es ist 19:30 Uhr. Bestimmt war ich in meinem ganzen Leben noch nie so fertig. Ich falle in einen tiefen, traumlosen Schlaf.